Cambodunum lebt!


29.07.2014
 

Wer nach Kempten will, muss dorthin wollen. Die Stadt auf den Zehen von den Füssen der Alpen (ihr versteht, was ich meine) liegt nicht an großen, die Alpen überwindenden Passstraßen, es gibt keine nahegelegenen Städte wie München, Basel, Köln oder Nürnberg. Hier gibt es keine Ausreden für Abstecher. Hier ist ein Ziel. Es ist nicht so, dass Kempten am Wegesrand steht wie ein nasser Anhalter (z. B. Montabaur) oder einem heruntergefahrenen Zweck nachtrauert wie Wilhelmshaven am Jadebusen; Kempten und Umgebung sind belebt, besiedelt. Es ist nur einfach nicht mit dabei, wenn die Szene-Städte Party machen. Man denkt noch nicht einmal daran, es einzuladen. Von selber drängt sich die Stadt nicht auf.

Ich wollte nach Kempten. Als Cambodunum hatte es eine glanzvolle römische Vergangenheit, war zeitweise Hauptstadt der römischen Provinz Raetia, in späteren weniger glänzenden Zeiten Bastion am Grenzfluss Iller. Cambodunum (etwa „Schleifenburg“, bezogen auf die Flußschleifen des o. a. Grenzflusses) hießen einige keltische Städte, Kempten hat die Ehre, das größte heute noch existente Schleifenburg zu sein. Nach ersten Ausgrabungen in der Nazizeit (die antike Stadt stoppte den Bau eines Offiziersheimes) wurde in den 50er-60er Jahren ein Haufen Mietskasernen auf das Gebiet Cambodunums gesetzt, mit knapper Not entkamen der Tempelbezirk und die „kleinen Thermen“. Ähnlichem Bauwahn fiel zur gleichen Zeit in der Nähe von Frankfurt die antike Stadt Nida zum Opfer, in Xanten am Niederrhein wurde ernsthaft diskutiert, die Colonia Ulpia Traiana wegzubaggern, um an den darunter liegenden Rheinkies zu kommen. 

Das antike Cambodunum hatte also auch nur eine durchschnittliche Portion Glück in der nicht gerade archäologiefreundlichen Mitte des letzten Jahrhunderts. Und dann doch mehr: in den 80ern wurden sorgfältige und anschauliche Rekonstruktionen an der Stelle eines einzigartigen heiligen Bezirks hochgezogen. Auf einem Hügel über der Stadt stehen, nahe am Abhang und von zwei Seiten von einer Wandelhalle umfasst, mehrere Tempel und Tempelchen, Kapellen, Bildstöcke, heilige Bäume – ein anschauliches Ensemble antiker Sakralbauten, deren besonderer Charme vielleicht darin liegt, die kulturelle Kontinuität dieser Bauten zu den christlichen Formen von Kapelle, Bildstock, Votivgabe etc. darzustellen. 

„Cambodunum lebt!“ hieß nun das Römerfest am letzten Wochenende. Vielleicht tobten dort nicht tausende Reenactors und Living Historians durch die Gegend, marschierten keine endlosen Kolonnen rasselnd gerüsteter Milites durch die Gegend: aber es waren gute, hochqualifizierte Darsteller und Handwerker dort, die ihr Handwerk/ihre Rolle verstanden. Man konnte dort tatsächlich was lernen! Niemand saß dort stumm wie ein Fisch hinter seinem Gebossel und ließ sich angucken wie im Aquarium – Interaktion bestimmte das Geschehen. Und immer war irgendwo was los, Führungen, Spielszenen, Aktionen für alle Altersgruppen. Dabei blieb die Kommunikation auf Augenhöhe, hat sich nicht zum Dozieren oder Reklamieren verstiegen. Das ist schon was besonderes. Das haben alle – alle – sichtlich genossen. 

Und noch mehr Leben in Cambodunum: da war mehr Herzlichkeit, Freundlichkeit, Offenheit, bei den Veranstaltern und dem Publikum. Als sich am Samstag Mittag die Schleusen des Himmels öffneten und Regen auf die Welt herabgossen, wurden im Handumdrehen Lösungen gefunden, die ein Minimum an nasser Ausrüstung und ein Maximum an Komfort boten – inklusive eines Komplettumzugs am Sonntag, der vermutlich meine Gesundheit und meine Bilder rettete. Geschmeidig fingen die Organisatoren jeden noch so großen Brocken Chaos, der sich im Geschehen erhob, auf und dribbelten ihn aus – eine ungeheure Arbeit, die aber nie in Stress für die Chaosverursacher (die Akteure) ausartete. Dafür ein Bravo, das war eine großartige Leistung.

Wer nach Kempten will, muss dorthin wollen: jetzt will ich wieder da hin. Vielleicht nicht sofort, vielleicht nicht so bald, aber: auf jeden Fall. Die endlosen Kilometer hinter Ulm hinunter, durch unspektakuläre Gegenden, an deren Kante sich dann plötzlich die riesigen Berge abheben. Dorthin, wo Cambodunum lebt.


Der Hercules im Archäologischen Park Cambdounum, geschmückt mit einem Efeukranz.
Dem Hercules von Cambodunum gab ich meinen Kranz.