24.07.2009
Die Schönheit von Kunstwerken vergangener Epochen liegt zu einem nicht unbeträchtlichen Teil darin, dass diese Epochen vorbei sind. In ihren eigenen Zeiten haben diese Kunstwerke einen Aspekt,
den sie heute nicht haben – den der Aktualität. Aktualität ist nicht nur ein Ruhen im Augenblick des Jetzt, es ist auch ein Blick in die Zukunft – das Kunstwerk besticht dadurch, dass es zum
Zeitpunkt seiner Vollendung das jeweils modernste, aktuellste, zeitgemäßeste ist, das der jeweilig Schaffende hervorbringen konnte: Verfeinerung (auch "Pflege" genannt) traditioneller Stile
gehört immer dazu. Anfangs des 20. Jhs. wurde es Tradition, neue Stile zu erfinden, heute ist es Stil, in dieser Hinsicht personengebunden zu operieren.
Wo die Stilelemente vergangener Zeiten außerhalb ihres sinnhaften oder funktionalen Kontexts verwendet werden, spricht man von Eklektizismus oder "Retro" – das führt zu gotischen Bahnhofshallen
und Handtaschen mit Piratentätowierungen als Dekor. Seit der Misere des 19. Jhs., in dem die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Umbrüche unter einem bröseligen Putz aus künstlerischen
Rückberufungen auf antike, romanische und gotische Epochen versteckt werden sollten, können diese Stile – heute geschaffen – nur noch als ironische Imitationen gesehen werden. In der Tat ist es
"keine Kunst" mehr, in handwerklicher Perfektion tolle lebensechte Bilder zu malen; die Produktion bestimmter Farben (wegen denen Maler wie Tizian oder Rubens eine eigene Berühmtheit errangen)
wird heute in industrieller Perfektion von Firmen wie Schmincke oder Caran d'Ache übernommen, vom Ausstoß fotorealistischer Bilder nach Quadratmetern leben ganze Städte in China.
Manche Aspekte vergangener Stile gehen unter, weil die Produktionsbedingungen sich einfach geändert haben – die oben genannten Farben, die früher in mühevoller Arbeit nach Geheimrezeptur
angefertigt wurden, sind ein Beispiel, ein anderes ist z. B. die Vollendung des Kölner Doms unter Verwendung von Stahlträgerbauweise, die dem gotischen "Überbau" zugrunde liegt. Wir können mit
moderner Technik jedes beliebige antike Bauwerk und Kunstwerk kopieren – die Walhalla in Regensburg ist vielleicht das letzte "ernst gemeinte" Exemplar – weshalb ein respektabler und wichtiger
Bestandteil moderner Forschung sich mit der Reproduktion historischer Werke mittels historischer Techniken befasst.
Kopieren, kopieren. Das geht relativ einfach. Ob man nun mit Schieblehre und Augenmaß an einem Marmorblock meisselnd oder mittels 3-D-Scanner und Computerfräse eine Kopie der Kolossalstatue des
Constantin vom Kapitol in Rom herstellt ist unter Aspekten des Stils, wie man so sagt, "wumpe"; Constantin ist Constantin. Aber stilistisch wäre es z. B. auch möglich, eine solche Statue von
Angela Merkel zu schaffen: wir kennen die Kleidung, die Physiognomien, die stilistischen Merkmale, die notwendig wären, ein solches Abbild zu erzielen. Warum klappt das nicht?
Zum einen versucht das niemand, Gott sei Dank.
Zum anderen fehlen nicht die Proportionen, sondern die Zwischentöne zwischen den Proportionen, der tägliche Umgang mit ihnen. Ein Neurotiker wie Viollet-le-Duc konnte sein ganzes Leben lang mit
begeistertem Eifer die Baukunst der Gotik studieren, das Stundenbuch des Herzogs von Berry, die wenigen erhaltenen Bauwerke – die Rekonstruktionen von seiner Hand nehmen sich heute käsig,
kitschig, übertrieben aus. Die vergangenen Stile sind uns fremd wie tote Sprachen, auch wenn sie uns näher und greifbarer scheinen. Die Versuche, Neues mit altem Aussehen zu schaffen, lassen
Neues einfließen, durch neue Bildsymboliken, durch neue Bedeutungen, die sich über alte Bilder gelegt haben. Andere, alte Konnotationen sind durch die Patina dieser neuen Inhalte nicht mehr
erkennbar – wir stehen vor den Rekonstruktionen z. B. in der Ausstellung "Bunte Götter" und begreifen nur, wie wenig wir eigentlich verstehen können.
Und trotzdem versuchen wir es, denn zum verstehen gehört das Bildermachen. Wir können gar nicht anders. Rekonstruktion lässt nichts altes wiederauferstehen, Rekonstruktion träumt einen
Traum.
Aber man könnte sich die Mühe machen, diesen Traum etwas gewissenhafter zu träumen. Einer dieser Träume schippert gerade auf den Flüssen des ehemaligen Germania Inferior herum. Das kleine
Flusskriegsschiff "Victoria", als Rekonstruktion des faktischen Befunds schmucklos wie ein Knie, trägt eine viel zu aufgedonnerte Statue am Heck, dafür aber keine Standarte; sie trägt einen
geschnitzten Namen am Bug, dafür aber nicht das Schiffsauge; sie ist am Bug stromlinienförmig wie ein Porsche und trotzdem ragen die Steven vorn und hinten hervor wie Fremdkörper, ohne den
eleganten Schwung und die Überleitung in die Beplankung, die man auf den vielen Fresken und Reliefs römischer Schiffe (übrigens auch kleiner Schiffe) sieht. Manche Leute träumen halt gar nicht.
Zumindest ein paar Augen hätte man ihr gönnen können. Der Widerspruch zwischen der "nüchternen" Rekonstruktion und dem Authentizitätsanspruch ist ein Widerspruch des künstlerischen Gewissens, traue ich mich, so zu gestalten wie vor 1900 Jahren? Die Ingenieure und Baumeister haben sich getraut, die Künstler nicht.
Vielleicht wurden sie aber auch gar nicht gefragt.